Dr. Markus Hengstschläger - Die Macht der Gene

Dr. Markus Hengstschläger

Dr. Markus Hengstschläger studierte Genetik, forschte an der Yale University in den USA und ist heute Vorstand des Instituts für Medizinische Genetik an der Medizinischen Universität Wien. Er ist Berater, Bestsellerautor, leitet den Think Tank Academia Superior, und ist stellvertretender Vorsitzender der österreichischen Bioethikkommission.

Mit seiner beruflichen Laufbahn weiß Dr. Markus Hengstschläger bestens darüber Bescheid, wie Gene funktionieren und dementsprechend auch, inwieweit sie ausschlaggebend für unsere Entwicklung sind und inwieweit nicht. Welche Rolle spielen die Gene bei Fragen nach dem Verhalten, den Talenten oder Erkrankungen des Menschen? Und wie kann man dieses Wissen nutzen?

Eine Frage, die momentan vom Thema wegzuführen scheint, war jene nach der obligatorischen Gestaltung der Gegenwart, um unsere Zukunft zu sichern. Denn diese sei, zumindest gemäß folgender Umfrage, deutlich unvorhersehbarer geworden.

Diese Entscheidung basiert laut Hengstschläger vermutlich auf unserem Bauchgefühl, weil in den letzten Jahren vieles passiert ist, was man nicht vorhersehen konnte und überraschend war. Die Wissenschaft hingegen würde behaupten, dass uns deutlich mehr Daten, künstliche Intelligenz und Algorithmen zur Verfügung stehen, wodurch wir die Zukunft besser vorhersagen könnten (Man spricht dabei von predictive analytics based on big data). Auf diese Weise könnten über nur wenige Clicks so detaillierte Profile von den Nutzern/innen des Internets erstellt werden, sodass man deren Verhaltensweisen und Zukunftsgestaltung möglicherweise besser einschätzen kann als die entsprechende Person selbst.

Der Widerspruch in Bezug auf die oben gestellte Frage ist jedoch, dass diese Daten nicht ausreichen werden. Denn die Zukunft ist zu komplex geworden.

In welchem Zusammenhang steht nun die Zukunft mit unseren Genen und Talenten?

Grundsätzlich sollen alle Begabungen gefördert werden, weil sie nicht gewertet werden sollen und können. Eine hebt Hengstschläger allerdings ganz besonders hervor: die Lösungsbegabung. Sie umfasst die Fähigkeit, für Herausforderungen Lösungen zu finden und zeichnet den Homo Sapiens aus. Diese Kompetenz erscheint maßgebend, um die bevorstehenden Schwierigkeiten zu bewältigen. Über dieses Potenzial verfüge prinzipiell jeder Mensch, doch die unzulängliche oder überhaupt nicht vorhandene Förderung hemme dessen Entfaltung.

Hengstschläger veranschaulicht dieses Problem in unserer Gesellschaft mit einem Beispiel aus der Erziehung. Sobald ein Kleinkind mit einer Herausforderung konfrontiert ist, scheint es zwei Optionen als Reaktion zu geben: „Rühr dich nicht“ und „Hör gut zu“. Der erste Satz signalisiert dem Kind, auf gar keinen Fall Eigeninitiative zu zeigen, denn das Erproben eigener Lösungsvorschläge könnte gefährlich und zeitaufwendig sein. Beim Zweiten wird dem Kind die Lösung schlichtweg vorweggenommen, die vom Kind oft dankbar angenommen wird. Auf diese Weise wird mittels Konditionierung das Verhalten eingeübt, bei Herausforderungen zunächst einmal nicht zu handeln, um sich später nach Hilfe umzusehen. Lösungen vorwegzunehmen, wird von Hengstschläger gleichgesetzt mit dem Verwehren der Übung des Lösungsfindungsversuches. Dadurch wird nicht nur die Begabungsförderung gehemmt, sondern auch die Möglichkeit eines Erfolgsgefühls genommen, welches das Selbstbewusstsein massiv stärken würde. Menschen, die allerdings die Möglichkeit hatten, dieses Potenzial zu entwickeln, würden sich demgemäß bei einem kollektiven Problem eher engagieren.

Die Ermöglichung der Suche nach und des Ausprobierens von Lösungswegen würde zudem unsere Fehlerkultur verbessern, weil Scheitern als Teil des Lösungsprozesses verstanden würde und nicht als totales Versagen. Dadurch würden wir unsere Resilienz erweitern und uns ermutigt fühlen, innovativ zu sein.

Reines Talent oder Übung?

„Talent hat man oder eben nicht“ ist ein Satz, den man häufig hört. Hengstschläger spricht in diesem Zusammenhang von einer genetischen Ausrede, durch die die Verantwortung auf andere übertragen werde, weil man in entsprechendem Bereich über kein Talent verfüge und sich daher für Probleme diesbezüglich auch nicht zuständig fühlt.

Doch das entspreche nicht der Wahrheit. Gene haben zwar eine Bedeutung und Macht, wenn es um die Talente eines Menschen geht, aber sie seien bei Weitem nicht der einzige Faktor. „Der Mensch ist auf seine Gene nicht reduzierbar – Gene sind nur Bleistift und Papier, aber der Mensch schreibt seine Geschichte selbst“, formuliert Hengstschläger mit einer Metapher äußerst treffend.

Als Beispiel wird die menschliche Sprachfähigkeit angeführt. Durch das Kommunizieren mit einem Kind beginnt es auf unerklärliche Weise irgendwann einzelne Wörter, dann einzelne Sätze und plötzlich in vollem Umfang zu sprechen. Obgleich der Hund dasselbe hört, wird er diese Fähigkeit nie entwickeln, woraus man ableiten könnte, die Genetik sei die Ursache. Doch die Genetik ist dabei nur die Voraussetzung, sie ist stets nur das Potenzial, eine Fähigkeit entwickeln zu können. Wenn nämlich mit Kindern nicht gesprochen wird, werden sie ebenso nie sprechen können, weil die Förderung zur Entfaltung des Potenzials entfällt.

Wie fördert man Talente und Begabungen?

Es ist also klar, dass die Förderung von Begabungen unabdingbar ist. Dabei seien zwei Formen von Bildungssystemen notwendig. Einerseits handelt es sich um die gerichtete Bildung, welche die Vermittlung von bewährtem Wissen umfasst, welches sich bei der Lösungsfindung als hilfreich erweisen kann. Viel wesentlicher in Bezug auf Lösungsfindung sei allerdings das Erwerben ungerichteter Kompetenzen. Diese beziehen sich nicht auf ein bestimmtes Thema, sondern sind stets notwendig und hilfreich, wie etwa Kreativität, kritisches Denken, Recherchekompetenz, Ethik, Mut, Entscheidungsfreudigkeit oder auch Fleiß.

Die „3/24-Methode“ eignet sich besonders gut, um eigeninitiatives Denken zu forcieren. Dabei soll jemandem, der sich mit einem Problem konfrontiert sieht und sich nach einer Lösung erkundigt, 24 Stunden Zeit gegeben werden, um drei Lösungsvorschläge zu generieren. Die Folge daraus ist, dass jene Person bald direkt von sich aus drei Lösungsvorschlägen liefern und schließlich bereits selbst eine Lösung gefunden haben wird, bevor sie bei anderen Hilfe sucht.

Typen der Lösungsbegabung

Hengstschläger unterscheidet zwischen drei Typen in Bezug auf Lösungsbegabung.

  • Blauäugige Optimisten: Obgleich die herausfordernden Zeiten anerkannt werden, sind blauäugige Optimisten der Meinung, es wird sich irgendwie ausgehen, auch ohne ihren Beitrag. Motto: „Die werden das schon machen.“
  • Eingefleischte Pessimisten: Eingefleischte Pessimisten befinden sich ebenso in einer Mitmachkrise, aber aus einem anderen Grund. Weil sie nämlich fest davon überzeugt sind, dass es keine hinlängliche Lösung gibt und es sich auch nicht auszahlt, daran zu arbeiten. Motto: „Das geht sich alles nicht mehr aus.“
  • Possibilisten: Possibilisten erkennen herausfordernde Zeiten an, sind jedoch der Überzeugung, dass auch deren Bewältigung möglich ist. Possibilismus setzt voraus, sich immer wieder in Bewegung zu setzen, denn Lösungsbegabung ist ein andauernder Prozess. Motto: „Ohne meinen Beitrag werden wir es nicht schaffen.“

Es ist wohl naheliegend, dass Possibilisten/innen jene Gruppe darstellen, die zukunftsweisend ist. Um sich diesem Typ anzunähern, muss man sich Ziele setzen, die nicht allzu leicht erreichbar sind. Auf diese Weise können Lösungen gefunden werden, die man sucht, aber auch spannende, die man gar nicht gesucht hat. a

Kollektive Lösungsfindung

Wenn Menschen, die unterschiedliche Begabungen haben, gemeinsam diskutieren, ist die Wahrscheinlichkeit sehr groß, dass Lösungen gefunden werden. Man spricht dabei vom Medici-Effekt, durch den eine Schnittstelle zwischen unterschiedlichen Disziplinen entsteht.

Wenn das kollektive Wissen genutzt wird, können wir die Herausforderungen der Zukunft meistern. Hengstschläger bedient sich wiederum einer schönen Metapher: „Wenn alle kleinen Schnüre zu einem dicken Band zusammengebunden werden, ist das auch nachhaltig. Denn wenn eine Schnur reißt, hält das Band immer noch.“

Fragerunde

  1. Wie kann man Begabungen im Team erkennen?
  • Am besten notiert man auf einem Papier mit einem Strich in der Mitte auf der rechten Seite seine fünf persönlich größten Stärken sowie auf der linken die fünf größten Schwächen. Anschließend sollen zehn Kollegen ebenso verfahren, um eine Fremdeinschätzung zu erhalten. Beim Vergleich der Eigen- und Fremdeinschätzung können womöglich Begabungen erkannt werden, die man bisher selbst nicht wahrgenommen hat.
  1. Wie sehr wird die Lebensdauer durch unsere Gene bestimmt?
  • Grundsätzlich gibt es für den Menschen spezifisch einen genetisch festgelegten Rahmen für die Lebensdauer. Dieser Rahmen wird aber zunehmend besser ausgeschöpft durch lebensverlängernde Maßnahmen wie Medizin. Auch das Altern an sich wird immer stärker von den Umweltfaktoren beeinflusst. Das biologische Alter (Agilität etc.) ist zumeist deutlich jünger als das chronologische. Wir können also durchaus durch unseren Lebensstil unsere Lebensdauer nachhaltig beeinflussen.
  1. Soll ich mir bewusst Possibilisten ins Team holen?
  • Ja, unbedingt. Das muss man vermutlich aus oben genannten Gründen nicht weiter ausführen.
  1. Wie ist die prozentuelle Aufteilung der drei Typen nach ihrer Erfahrung?
  • Die Aufteilung gestaltet sich stets situationsabhängig. Bei der Pandemie bspw. gab es anfangs viele Possibilisten/innen, während sich die Situation nun stark verändert hat.
  1. Hängt meine Gesundheit stärker von meinem Verhalten oder von meinen Genen ab?
  • Gene spielen eine wichtige Rolle. Es gibt genetische Erkrankungen, bei denen Gene eine riesige Rolle spielen. Bei den typischen Erkrankungen aber nehmen wir multifaktoriell in ihrer Entstehung Einfluss. Man ist mitverantwortlich und soll alle Möglichkeiten nutzen, die einem offen stehen, um seine Gesundheit zu stärken.

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